Zweifel: Wenn das Leben in der Luft hängt
Online Magazin MINDO - April 2022
Dieser Beitrag erschien zuerst bei MINDO - dem kostenfreien Online-Magazin rund um die Themen Seelsorge, Coaching und heilsame christliche Spiritualität
Warum Zweifel zum Leben und Glauben dazu gehören und warum gerade sie unser Vertrauen vertiefen können
Wann haben Sie zum letzten Mal gezweifelt und woran? Sie könnten an eigenen Entscheidungen zweifeln, die Sie einmal getroffen haben: für oder gegen einen Partner, den Wohnort, einen Beruf, die Familiengröße. Oder es wäre möglich, an der Aufrichtigkeit von Menschen zu zweifeln, mit denen Sie zusammenleben. Vielleicht bezweifeln Sie, ob die nächste Familienfeier wie geplant stattfinden kann. Vielleicht bewegt Sie auch die Frage, ob und inwieweit manche der Corona-Verordnungen zielführend waren.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit im letzten Jahr: Damals zweifelte ich daran, ob es Sinn machen würde, ein Vorhaben „einfach so“ durchzuziehen. Ich wollte mich mit meiner Freundin in einer Großstadt treffen. Seit Monaten freuten wir uns auf diesen Tag. Doch da die Corona-Fallzahlen recht hoch waren, forderte die Situation von uns eine Konsequenz. Ich wusste: Egal, wie ich mich entscheiden würde, es könnte sein, dass es sich hinterher als unklug erweisen würde. Denn entweder waren wir zu vorsichtig oder nicht vorsichtig genug … Man kann aber eben immer nur mit dem Wissen von heute eine Entscheidung treffen, ohne schon detailliert absehen zu können, welche Konsequenzen sich künftig daraus ergeben.
Kluges Abwägen
Der Zweifel im Sinne von Abwägen und innerem Schwanken gehört schlichtweg zu unserem Leben. Er zeigt sich als Unentschiedenheit zwischen mehreren möglichen Denkkonstrukten. Das ursprünglich zugrundeliegende Wort war „tweifla“. Dies bedeutet so viel wie „unsicher bei zweifacher Möglichkeit“.
Kann das richtig sein? Die einen zweifeln besonders schnell an sich selbst – an dem, was sie tun, denken oder wer sie sind. Ich zum Beispiel lasse mich leicht im Straßenverkehr verunsichern. Wie letzte Woche. Da folgte ich einer neuen Ausschilderung – immer mit dem Gedanken im Hinterkopf: „Kann das richtig sein? Wo werde ich hier rauskommen?“ Selbst das Navi zeigte an, dass ich durchs Nirgendwo fuhr. Erst nachdem ich wieder auf der gewohnten Straße angekommen war, endete das unangenehme Gefühl und ich konnte routiniert weiterfahren. Der Zweifel an sich ist nicht negativ. Er kann uns davor schützen, mit Vollgas in die falsche Richtung zu düsen. Das verlangsamte Tempo und waches Umschauen können durchaus klug sein. Auch die Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren, ist immer angemessen.
Andere richten ihren Zweifel vorwiegend nach außen: gegen Autoritäten, Vorgaben und andere Menschen. In gewissen Maß ist das ohne Frage sinnvoll. Doch Vorsicht vor der Übertreibung! Denn je mehr wir bezweifeln, desto unsicherer wird unser gesamtes Lebensgrundgefühl – und das kann fatal werden! Übersteigerte Zweifel haben das Potenzial, Menschen entscheidungs- und handlungsunfähig zu halten. Vielleicht kennen Sie Personen, die ständig abwägen, ohne tatsächlich ins Tun zu kommen. Oder die durch übertriebene Skepsis nahe Beziehungen vermeiden. Solche Lebensgrundhaltungen tun auf die Dauer nicht gut. Sie hindern daran, sich mutig ins Leben einzumischen. Sie blockieren uns dafür, uns vertrauensvoll in die Beziehung zu Gott fallen zu lassen. Eine Frau beschrieb mir diesen Zustand sehr anschaulich mit „einer Horde von Fragezeichen“. Sie liegen in Lauerstellung im Hinterkopf und starten ihre Attacke, sobald sie eine Gelegenheit dazu bekommen. Wenn diese „Horde von Fragezeichen“ tatsächlich die Führung übernimmt, wird die Lebensführung empfindlich torpediert.
Wirf dein Herz voraus
In uns ist beides vorhanden: die Fähigkeit zu zweifeln und die Fähigkeit zu vertrauen. Welche wird unser Leben stärker prägen? Die Frage ist leicht zu beantworten: diejenige, die wir häufiger trainieren. Gott lädt uns in den Worten der Bibel immer wieder dazu ein, ihm zu vertrauen. Er wirbt regelrecht darum. Vielleicht ist in den Texten des Alten Testamentes einiges für uns heute unverständlich. Doch dieser Tenor springt uns nahezu in jedem biblischen Buch entgegen: „Vertraut mir! Hängt euer Herz nicht an vermeintliche Sicherheiten! Lasst euch ganz auf mich ein!“
Kyrilla Spieker, eine deutsche Ärztin und Benediktinerin, formulierte es so: „Wirf dein Herz voraus. Gott fängt es behutsam auf und wartet auf deine Füße.“ Der Punkt nach dem ersten Satz sollte betont werden. Vielleicht probieren Sie es aus und sprechen den Satz so: „Wirf dein Herz voraus – Punkt.“ (und die Horde von Fragezeichen in Ihrem Kopf darf es ruhig hören!) Oder Sie legen eine längere Pause ein und spüren dem Gesagten nach, bevor Sie den zweiten Satz auf sich wirken lassen. Falls Sie ein zögernder Mensch sind, könnten Sie den ersten Satz auch mit einem Ausrufezeichen versehen und ihn zur Erinnerung in Ihr Blickfeld hängen. Wenn wir diesen Schritt wagen, wird etwas geschehen. Gott wird unseren Vertrauensprozess, so zaghaft er auch sein mag, fürsorglich begleiten. In der Beziehung zu ihm – wie auch in zwischenmenschlichen Beziehungen – ist das Gegenteil vom Zweifel das Vertrauen. Es geht um eine Vorinvestition. Im Hebräerbrief werden die Christen aufgefordert: „Werft euer Vertrauen nicht weg. Es wird sich erfüllen, worauf ihr hofft. Aber ihr müsst standhaft bleiben und tun, was Gott von euch erwartet.“ (Hebräer 10,35)
Existenzielle Zweifel
Existenzielle Fragen und Zweifel werden uns früher oder später betreffen. Dafür reicht schon eine unerwartete Pandemie. Oder Erschütterungen im persönlichen Lebensgefüge. Dann stehen Fragen auf: Meint Gott es wirklich gut? Wird er die Welt zu seinem Ziel führen? Hat er Macht, einzugreifen? Bin ich ihm wichtig genug? Machen seine Pläne Sinn? – Diese inneren Fragezeichen zuzulassen, sie wahrzunehmen und ihnen einen angemessenen Raum zu geben, ist wichtig. Und in allen Jesusnachfolgern ticken außerdem wohl folgende Fragen: Wie wird mein Leben auf dieser Erde enden? Wie wird es sein mit Gottes neuer Welt? Lohnt es sich, darauf zu vertrauen?
Auch ich kenne diese Unsicherheit. Sie klopft leise an und fragt: „Und wenn das alles nicht stimmt?“ In solchen Momenten hilft es mir, anzuerkennen, dass ich die absolute Sicherheit nicht haben werde. Sie ist nicht über den Beweis zu erlangen, wie in einem beliebig wiederholbaren Experiment. An der Erdanziehung werde ich nie zweifeln. Mein ganzes Leben lang haben ich sie täglich erlebt. Die Beziehung zu Gott hat eine andere Grundlage. Deshalb habe ich mich was Gott, seine Gegenwart und neue Welt betrifft, die wir Himmel nennen, fürs Vertrauen entschieden.
Mir ist nichts Glaubwürdigeres und Gewinnenderes begegnet, als die Botschaft der Bibel. Ja, ich „setze auf dieses Pferd“ – mit allen Konsequenzen! Ich stelle mir Jesus vor: den autorisierten Repräsentanten aus Gottes Welt, von dem uns Augenzeugen in den Evangelien berichten. Ja, ich glaube ihnen, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Ja, ich vertraue darauf, dass die Aussagen von Jesus eine Wirklichkeit bezeugen, die über meinen Horizont hinausgehen. Ja, ich werfe mein Herz voraus.
Neue Erfahrung schlägt bisherige Annahmen
Es rührt mich, wie Jesus dem Zweifelnden begegnet. In Johannes 20 können Sie diese Episode nachlesen. Wie gut, dass vom Jünger Thomas berichtet wird, der für immer den Beinamen „Der Zweifler“ behalten hat (er wird auch „Der ungläubige Thomas“ genannt). Doch er ist unser Freund, dieser Jesusnachfolger, der über seine eigenen Fragezeichen stolpert und sie nicht geheimhält.
Thomas war nicht dabei, als Jesus nach seiner Auferweckung den anderen Jüngern begegnete. Sein gesunder Menschenverstand begehrt gegen diese ver-rückte Wirklichkeit auf, von der ihm seine Freunde berichten. Jede seiner bisherigen Erfahrungen spricht dagegen. Als Jesus eine Woche später dem geschlossenen Kreis der Jünger erneut begegnet, spricht er Thomas explizit an. Nicht enttäuscht, vorwurfsvoll, herablassend oder tadelnd. Nein, Jesus lädt Thomas zur Berührung und zur Beziehung ein. „Lege deine Finger auf meine durchbohrten Hände. Gib mir deine Hand und lege sie in die Wunde an meiner Seite. Zweifle nicht länger, sondern glaube!“ Hier könnte auch übersetzt werden „sondern vertraue!“
Jesus hat mildere Worte für den zweifelnden Jünger Thomas, als für die starr überzeugten Pharisäer, die zweifelsfrei einem falschen Verständnis folgen. Das lädt mich ein, lieber gelegentlich zweifelnd zu sein, als steif und fest auf einer vorher getroffenen Annahme zu beharren. In meinem Zweifel suche ich die Nähe von Jesus, der sagt: „Zweifle nicht an meiner Auferstehung, vertraue mir!“
Ob es für Thomas noch wichtig war, die Wunden von Jesus tatsächlich zu berühren, lässt der Text offen. Nach dieser Phase des Zweifels ging Thomas neu in die Beziehung zu Jesus, wie wir aus frühchristlicher Überlieferung schlussfolgern können. Er gelangte über Irak und Iran bis nach Indien, wo er christliche Gemeinden gründete und als Märtyrer starb. Das macht mir Mut: Aus durchlebten Zweifeln kann neu geerdete Kraft und Entschlossenheit für die Beziehung zu Jesus wachsen. Das wünsche ich mir immer wieder.
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