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Wie ein Gebirge, das seine Konturen zeigt

FamilyNEXT - Januar 2025

Dossier

Wie ein Gebirge, das seine Konturen zeigt … Unsere Identität bildet sich weiter aus, wenn die Familienphase endet. Von Christina Ott

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Mein Herz blutet“, beschreibt die Mittvierzigerin Martina (Name geändert) ihre Gefühlslage. Die Hochzeit ihrer Tochter Julia (Name geändert) war ein wunderschönes Fest, doch nun wird alles anders sein. Julia ist ausgezogen. Nicht nur sie fehlt, sondern auch die quicklebendige Abwechslung, die mit ihrer Clique oft spontan ins Haus schneite. Meine Klientin fühlt den tiefen Einschnitt an solch winzigen Begebenheiten wie dem Brötcheneinkauf. „Niemand wünscht sich jetzt mehr das knusprige Sonnenblumenbrötchen.“ Traurig spricht Martina weiter: „Das Gefühl, zurückgelassen zu sein, macht mir echt zu schaffen. Ich spüre eine große Verlassenheit.“

Ja, das ist Trauerarbeit. Allen Eltern steht das früher oder später bevor. Wenn ihre Kinder gesund sind und eine normale Entwicklung genommen haben, werden sie eines Tages den Sprung in die eigene Verantwortung für ihr Leben wagen. Meine Klientin spitzt ihre innere Frage zu: „Es brennt mir unter den Nägeln: Was fange ich an mit dem Rest meines Lebens?“ Bei dieser Formulierung hake ich freundlich ein: „Hattest du gerade ‚Rest des Lebens‘ gesagt?“ Martina stutzt und versteht, worauf ich hinauswill. Das Wort „Rest“ hat einen Unterton. Kaum einer mag den letzten Zipfel einer Wurst, abgebissen und längst nicht mehr appetitlich. Geht es also um den Rest von der Wurst des Lebens? Gemeinsam formulieren wir es neu: „Was fange ich an mit der neu gewonnenen Freiheit?“

Identität umbauen

Diese Frage enthält Zuversicht. Sie braucht keine schnelle Antwort und keine überschießende Reaktion. Viel hilfreicher ist eine echte Zäsur in der Tretmühle des Lebens. Denn im eigenen Sein muss nun ein wesentlicher Baustein der Identität umgebaut werden, der viele Jahre im Vordergrund stand. Leise Impulse melden sich und sollten gehört werden:

  1. Wer bin ich ohne meine Rolle als Mutter oder Vater?
  2. Was habe ich loszulassen?
  3. Was darf ich mir neu erobern?
  4. Wie wollen und können wir nun als Paar leben?

Unsere Identität ist ein hochkomplexes Gebilde aus Erfahrungen, Rollen und eigenen Entscheidungen. In dem Buch, das ich zusammen mit Valerie Lill geschrieben habe, formulieren wir: „Lebenslang bleibt die Auseinandersetzung mit der Identität durch Wandlungs- und Veränderungsprozesse relevant. Reflexionsfläche dafür sind positive oder negative Erfahrungen im sozialen Umfeld.“ (aus: Christina Ott & Valerie Lill: „Was lange gärt, wird endlich Mut“, Francke Buch)

Demzufolge ist es ein offenes Experiment, wie sich die persönliche Identität nach dem Ende der Familienzeit verändert. Diese Entwicklung folgt nicht vorgegebenen oder berechenbaren Gesetzmäßigkeiten. Denn wie wir Erfahrungen, Verluste und neue Freiheiten in unser Sein und Selbstverständnis einbinden, hat wesentlich mit uns selbst zu tun. Bei diesem Selbstexperiment sind wir also Gestalter und Zuschauer zugleich.

Rechtzeitig anfangen

Regelmäßig verschafft mir meine kranke Schulter angeregte Gespräche mit Fridolin, dem Physiotherapeuten. Zielstrebig frage ich bei einer Behandlung, was er zum Thema dieses Beitrags meint. Fridolin geht sofort in die Tiefe. Tatsächlich macht er sich schon jetzt Gedanken über das, was kommt, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Noch sind ein paar Jahre Zeit, doch er ist sich sicher: „Es wird leerer werden, es wird sogar ein Loch bleiben.“ Vom emotionalen Aspekt schaltet er schnell aufs Analytische um: „Es ist wichtig, wie man es angeht. Mit Neugierde? Mit Pragmatismus oder gar Resignation?“ Fridolin ist der Typ Mensch, welcher der Neugier und Entdeckerfreude den Vorrang gibt. Prophylaktisch hat er sein Ehrenamt beim Roten Kreuz hochgefahren – gemeinsam mit seiner Frau. Er sinniert darüber, wie junge Eltern ihre Identität aufgeben, sobald sie Kinder bekommen. In diesem Punkt widerspreche ich, denn aufgeben kann man die Identität gar nicht – sie ist und bleibt ein Teil von uns. Schnell klären wir, was er gemeint hat: die eigenen Bedürfnisse hinter denen der Kinder zurückstellen und den Lebensrhythmus an ihnen ausrichten. Ich nicke. Ja, so läuft es meistens. Zum bisherigen Sein kommt als neuer Identitätsbaustein die Mutter- oder Vaterrolle hinzu und stellt vieles erst einmal in den Wartestatus.

So ging es mir auch, als vor 30 Jahren unser erstes Kind geboren wurde. Wie im Zeitraffer ging die prägende Familienzeit vorbei. Einundzwanzig Jahre später verließen beide Kinder das Nest. An die anfängliche Leere und Orientierungssuche kann ich mich gut erinnern. Dafür haben wir uns Zeit gelassen und die Etappe bewusst durchlaufen, um für eine neue Lebensphase bereit zu werden.

Das Ende der Familienzeit bringt eine Zäsur mit sich, unabhängig davon, wie gut oder schlecht man vorher aufgestellt war. Es bleibt Lebenszeit übrig, während der dominierende Lebensinhalt entschwindet. Und es ist sicher im Sinne des Schöpfers, wenn diese Zugabe an Lebenszeit uns reifer werden lässt. Wenn wir in unserer Persönlichkeit, in Beziehungen zu anderen Menschen und unserer Beziehung zu Gott wachsen. Rein biologisch sind wir zwar auf dem „absteigenden Ast“, doch unsere Identität bildet sich weiter heraus wie ein Gebirge, das sich deutlicher herausschiebt und seine Konturen zeigt.

Identität wächst weiter

Egal, wie wir uns entscheiden: Nur noch eine ruhige Kugel schieben? Von früher träumen? Voll Gas geben und alles nachholen? Oder bedacht und ruhig die nächste Lebensphase annehmen? Genau das wird sich in unserer Identität abbilden. Deshalb lautet meine Einladung:

Halt erst einmal inne. Freu dich an dem, was du geschafft und geleistet hast, allein oder gemeinsam mit deinem Partner oder deiner Partnerin. Kinder ins Leben begleitet zu haben, ist Privileg und Gütesiegel zugleich. Die Dankbarkeit darüber darf dein Herz füllen und deine Identität für die Zukunft prägen. Auch Barmherzigkeit über allem, was dir und anderen nicht gelungen ist in dieser Zeit, ist ein wertvoller Baustein für deine Identität. Es wird dich milder stimmen in deinen Ansprüchen und Urteilen. Finde heraus, welche Art Mutter oder Vater du für deine erwachsenen Kinder sein kannst. Frag am besten nach, was deine Kinder dazu sagen und gleich das mit deinen Bedürfnissen und Vorstellungen ab. Wenn du es umzusetzen beginnst, wächst du langsam in die neue Rolle hinein. So wird sie ein Stück von dir selbst, ein Teil deiner Identität.

Bemühe dich anschließend darum, mit dir selbst gut klarzukommen. Lass dich nicht verleiten, nur an der Außenwelt zu feilen, sondern wende dich auch deiner Innenwelt zu. Ähnelst du noch der Person, die du im Tiefsten sein willst? Hast du Werte und Überzeugungen aufgegeben, Freundschaften verloren, Federn gelassen? Dann hol dir Hilfe und Unterstützung.

In die Paarbeziehung investieren

Ist deine Partnerschaft schon längst nicht mehr das, was sie sein sollte? Nur die Kinder waren euer Kitt? Dann ist jetzt die Gelegenheit, noch einmal ehrlich zu investieren in das Versprechen, das du damals gegeben hast. Klarheit und Aufrichtigkeit wirken sich besser auf die Identität aus als Halbherzigkeiten. Geh die Sache mutig an, auch wenn es keine Erfolgsgarantie gibt. Ich kenne Paare, die sich nach der Familienphase neu aufeinander zubewegt haben und heute miteinander glücklich sind, obwohl das vorher keiner dachte. Ohne Kinder gibt es neue Chancen für die Partnerschaft: ungeteilte Zeit zu zweit, Gesprächsthemen, die sich wirklich um euch drehen, Gelegenheit zum spontanen Sex oder Unternehmungen, die euch verbinden.

„Identität schreit nach Sinn“, betont Valerie Lill.  Deshalb sollten auch diese Fragen Raum finden: Wofür wollt ihr gemeinsam antreten? Oder du allein? Was ist es wert, dass du dich einbringst? Und wie kannst du deinen christlichen Glauben neu beleben? Daraus können sich spannende Entwicklungen ergeben.

Wenn du einmal 80 Jahre alt bist, zählt, ob Weisheit und Güte zu deiner zweiten Haut geworden sind. Ob du ein wohlwollender Begleiter für Menschen bist und eine treue Beterin. Durch alles, was du denkst, sprichst, liest, in dich aufnimmst und verstoffwechselst, stellst du jetzt schon die Weichen für deine Identität am Ende deines Lebens. Also sei wählerisch! Gerade jetzt in einer Zeit, in der viele Menschen auf Krawall gebürstet sind. Auch das kann ein Teil der Identität werden. Stattdessen brauchen deine Kinder und Enkel Vorbilder und Wegbegleiter, die ihnen Mut zum Leben machen und die Gottes Treue mit ihrem Sein bezeugen. 

Christina Ott ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen, adoptierten Kindern. Sie arbeitet als Individualpsychologische Beraterin/Supervisorin und Referentin in Nürnberg.

 

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