Was uns im Leben weiterbringt
Lichtblick - Magazin für praktizierte Individualpsychologie - Dez. 2023
Inspirationen aus der Logotherapie
Tief betroffen von den aktuellen Ereignissen in der Welt möchte man intuitiv antworten auf die Frage dieser Lichtblickausgabe: „Ist nicht offensichtlich, was im Leben wirklich zählt? Frieden natürlich. Sicherheit. Schutz. Bei den Lieben sein dürfen. Wasser, Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf “.
Wenn wir Viktor E. Frankl (1905 – 1997), dem österreichischen Neurologen, Psychiater und Begründer der Logotherapie die gleiche Frage stellen könnten, würde er vermutlich sagen: „Was im Leben wirklich zählt? Es ist der Wille zum Sinn! Unter allen Umständen.“ Diese seine Erkenntnis entstand nicht am Reißbrett, nicht im warmen Wohnzimmer oder im renommierten Psychologischen Institut. Sondern in Entbehrung all dessen, was ich anfangs aufzählte und was uns schlichtweg unverzichtbar scheint. Frankl entschied sich für diese Haltung unter den extremsten Bedingungen menschlicher Existenz. Er wurde mit seiner Familie im September 1942 von Wien ins Ghetto Theresienstadt deportiert, 1944 ins KZ Auschwitz gebracht und anschließend in das KZ Türkheim. Die Nationalsozialisten ermordeten alle seine Lieben. Nur Viktor Frankl überlebte den Holocaust. Nachzulesen sind seine Erfahrungen und Reflexionen im packenden Büchlein: „…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.“ Es ist in 26 Sprachen übersetzt worden und weltweit über 12 Millionen Mal verkauft.
Der Wille zum Sinn wurde die Grundlage von Frankls therapeutischem Ansatzes. Seine „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ ist bezeichnenderweise auch als Existenzanalyse bekannt. In der verunsichernden Situation, wie wir momentan wohl fast alle mehr oder weniger durchbuchstabieren, lohnt es sich, neu hinzuschauen auf die Lebenshilfen der Logotherapie.
„Binde deinen Karren an einen Stern“
Inwiefern könnte uns das weiterbringen? Je existenzieller wir Bedrohungen erleben, desto massiver wird unsere Lebensphilosophie auf den Prüfstand gestellt. Wohlstandshoffnung und Erlebnisgesellschaft erweisen sich als Fata Morgana. Schon Leonardo da Vinci (1452 – 1519), das italienische Universalgenie, formulierte den Ausspruch: „Binde deinen Karren an einen Stern“. Seine Aufforderung mutet etwas seltsam an. Sollte man nicht besser Esel, Ochsen oder Pferd vor den Karren spannen? Schließlich braucht man eine Kraft, die den Karren vorwärtsbringt, ihn vielleicht sogar aus dem Dreck zieht…
Interessanterweise brachte Elisabeth Lukas, die bedeutende Schülerin Viktor Frankls, unter der Überschrift „Binde deinen Karren an einen Stern - Was uns im Leben weiterbringt“ ein Buch heraus. Es ist gespickt mit Beispielen und Denkansätzen der Logotherapie, mitten aus dem Leben und der Beratungspraxis. Sie entfalten ihre Wirkkraft wie leuchtende Sinn-Sterne. Während ich in dem Buch blättere und vor Jahren markierte Stellen wieder lese, faszinieren mich die Gedanken ganz neu. Je verrückter die Zeiten sind, desto wichtiger wird die Haltung zum Leben, die Einstellung zu anderen und die Perspektive der inneren Freiheit.
Das Leiden am sinnlosen Leben
Die Luft wird bedrohlich dünn im „existenziellen Vakuum“. So bezeichnete Frankl das prekäre Überdruss- und Sinnlosigkeitsgefühl seiner Zeit. Er sah dies als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen an und schrieb: „Tatsächlich sind wir heute … mit einer existentiellen Frustration konfrontiert.“ Dieses Phänomen ist offensichtlich nicht zurückgegangen. Ganz im Gegenteil. Das Leben wirft die Fragen und Krisen schneller hin, als wir Lösungsansätze finden können. Das kann tatsächlich entmutigen. Immer wieder begegnen uns im privaten Alltag oder im Kontext der Beratung Menschen, die keinen Sinn in ihrem Leben sehen. Entweder nicht mehr - nachdem sie Entscheidendes verloren haben. Oder, und das trifft leider verstärkt für junge Menschen zu, schon von Anfang an. Auch uns selbst kann von heute auf morgen diese Not überfallen. Dann erleben wir schmerzlich: mit einem gefühlten Sinnvakuum lässt sich das Leben nicht gut gestalten. Denn „Im Sinnvakuum erlischt die Freude.
Und nun?
Schon die einleitenden Worte von Elisabeth Lukas im erwähnten Buch lassen ein Licht aufleuchten. „Das Schicksal stellt uns mitten in leidvolle oder freudvolle Situationen hinein. Das alles ist „Material“, das noch gestaltet werden will. Es liegt ein gewisser Trost darin, dass wir in jedweder Situation noch irgendwie mitspielen können, aber gleichzeitig mischt sich auch eine ethische Komponente ins Spiel, insofern, als die Art und Weise der Gestaltung eines vorliegenden Materials nicht mehr dem Schicksal allein aufgebürdet werden kann, sondern hauptsächlich „unseres“ ist. In allem, was uns das Schicksal zuspielt, stellt sich uns auch die Frage:
- Und nun?
Was kann ich, was soll ich, was will ich tun?"
Ich gönne mir eine Lesepause und atme tief durch. Ja, so soll es sein! Das darf nicht in den Hintergrund rücken vor lauter Betroffenheit in schwierigen Lebenssituationen. Das Umschalten auf diese sinnstiftenden Fragen bringt uns auf den Boden der Gestaltungfreiheit zurück. Und es hat das Potential dazu, unsere innere „Trotzkraft des Geistes“ zu aktivieren.
Die richtigen Fragen stellen
Der Ansatz ist wichtig, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Das scheint schnell in Vergessenheit zu geraten, wenn wir uns einfach treiben lassen. Viktor Frankl spitzt es zu, indem er sagt: „Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“ Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt. Wir haben zu antworten! Doch nicht genug damit, wir haben sogar unsere Antworten zu verantworten!
Wem wurde schon in seiner Kindheit oder Jugend dieser Blickwinkel mitgegeben? Viel natürlicher liegen uns Fragen auf der Zunge wie: „Warum passiert mir das? Wie komme ich dazu? Wieso muss ich in dieser Zeit leben, mit diesem Umfeld?“ Doch sie sind irrig. Völlig zwecklos. Falsche Fragen führen zu falschen Antworten.
Wir dürfen andere Fragen verinnerlichen und sie unseren Klienten/-innen mitgeben:
- Wozu fordert mich meine Situation heraus?
- Welche Antwort will ich geben?
- Welche Spuren will ich hinterlassen?
- Was soll vor meinem Gewissen standhalten?
- Will ich Leid vermehren oder Hoffnung vermehren?
Auf diese Fragen lassen sich gute Antworten finden. Hier nun aus dem Buch von Elisabeth Lukas zwei solcher „Sterne“. Für mich fühlen sie sich wie Joker im Kartenspiel des Lebens an.
Wertezuwachs im Leiden
Es ist pure Illusion, zu meinen, im menschlichen Leben könnte „ein Dauerzustand intensiven Wohlbehagens erwartet werden“. Natürlich wissen wir das mit dem Kopf, doch die innere Glückserwartung tickt oft ganz anders. Es durchbricht unseren Denkhorizont und auch den unserer Klient/-innen, dass unumgängliche Leiderfahrungen positive Auswirkung für unser Leben haben könnten. In Krisensituationen treten neue Werte zutage, für die zu leben sinnvoll ist.
In einer schweren Krankheit oder schlimmen Tragödie haben wir die Wahlfreiheit, den Fokus darauf zu richten, welche Werte wir jetzt als Betroffene leben könnten. Ist es Treue oder Vergebung? Innere Stärke oder Gelassenheit? Das Leben hat einen bedingungslosen Sinn, den es unter keinen Umständen verliert! Uns so auszurichten wird unseren Charakter reifen lassen. Jedes Beispiel in Elisabeth Lukas´ Buch atmet diese Hoffnung trainiert mich als Mensch und Beraterin in Richtung Sinnfindung.
Das Beugen vor dem Geheimnis
Auch diese Formulierung stammt von Frankl selbst. Sie hilft, nicht enden wollende Warum-Fragen zu stoppen und ruhig zu werden. Ja, da gehört eine Portion Demut dazu! Elisabeth Lukas ist überzeugt, dass selbst trotz größten, persönlichen Kummers und nicht zu entschlüsselnder Rätsel im Leben jedes Einzelnen auch irgendwo die Gnade auffindbar sei.
Und dass wir uns als Menschen nicht in der fragenden, sondern in der antwortenden Position befinden. Damit wären wir wieder bei den richtigen oder falschen Fragen. Noch einmal Elisabeth Lukas. „Auf die Fragen, die das Schicksal uns stellt, lassen sich ganz hervorragende Antworten finden“. Und sie lassen sich leben. Im kleinen Alltag.
Dann bleibt unser Lebenskarren nicht im Schlamm stecken, sondern bewegt sich beharrlich durch alle Widrigkeiten des Weltgeschehens und der persönlichen Krisen.
„Wer ein Warum zum Leben hat, findet auch ein Wie.“
Viktor E. Frankl