Nachgefragt: Leichter leben
Online Magazin MINDO - August 2022
Wie kriegt man das hin, ein leichteres Leben – trotz wachsender Anforderungen in Beruf und Familie und auch angesichts immer neuer herausfordernder Zukunftsszenarien? Wir haben bei der psychologischen Beraterin Christina Ott nachgefragt
Dieser Beitrag erschien zuerst bei MINDO - dem kostenfreien Online-Magazin rund um die Themen Seelsorge, Coaching und heilsame christliche Spiritualität
MINDO: Frau Ott, leichter zu leben – danach sehnt sich eigentlich jeder. Warum löst allein der Gedanke an Leichtigkeit eigentlich so ein positives Gefühl in uns aus?
CHRISTINA OTT: Worte und Begriffe sind eben mehr als nur Worte und Begriffe. Wir verknüpfen sie mit unseren Erfahrungen, Bewertungen und Zielen. Bei einem Wort wie „Urlaub“, das für die meisten nach Erholung klingt, kann das auch gemischte Gefühle auslösen. „Leichtigkeit“ hingegen scheint mir fast durchgängig positiv besetzt zu sein.
In einer Fortbildung hörte ich einmal, dass visualisierte Begriffe im Gehirn etwas auslösen. Ob wir etwas wirklich erleben oder nur davon träumen, kann das Gehirn nicht trennen. Damit könnte es zusammenhängen, dass der Gedanke an „Leichtigkeit“ uns innerlich aufleben lässt. Als Gegengewicht zum erlebten Alltag, ist Leichtigkeit ein Sehnsuchtsbegriff. Wenn ich daran denke, sehe ich eine schwebende, weiße Feder vor mir. Automatisch entspannen sich dabei meine Gesichtszüge.
Was macht uns heute das Leben denn am ehesten schwer? Die Menschen vergangener Jahrhunderte mussten ganz objektivbetrachtet sicher häufig unter schwierigeren Bedingungen leben als wir. Oder ist das ein Irrtum?
OTT: Um das genau beantworten zu können, müssten wir die Menschen von damals befragen. Doch das geht leider nicht. Ich lese sehr gern gut recherchierte historische Romane. Intuitiv würde ich deshalb antworten: Die Menschen früherer Generationen hatten es existenziell richtig schwer. Doch sie hatten auch Vorteile. Zum Beispiel lebten sie mit viel geringeren Glückserwartungen. Ein Großteil der Menschen fühlte sich zugehörig zu einer Großfamilie oder einem Sippenverbund. Und der Bezugsrahmen des Glaubens war wesentlich selbstverständlicher als heute.
Was unser Leben heute schwer macht? Es gäbe viele Aspekte. Mir fallen zuerst Vereinsamung und mangelnde Zugehörigkeit ein. Schon vor Corona war das problematisch. Außerdem spielt der abhanden gekommene Lebenssinn eine Rolle. Dadurch bekommt das Drehen um das eigene Ich eine viel zu große Bühne. Soziale Ängste, hohe Ansprüche und festgelegte Erwartungen an andere machen das Leben extrem schwer.
Von meiner Freundin Valerie Lill stammt ein Song mit dem Refrain: „Es ist so leicht, sich das Leben schwer zu machen“. Gut beobachtet! Auch unter meinen Klienten kommt es häufiger vor, dass sie sich mit ihrer privaten Logik das Leben unnötig erschweren. Auf Menschen, die wirklich unter äußerlich katastrophalen Umständen leiden, treffe ich seltener. Aber: Der Knoten, den wir selbst geschaffen haben, lässt sich meist auch wieder auflösen.
Nun ist „Ich will leichter leben“ natürlich leichter gesagt, als getan. An was scheitern die meisten bei der Umsetzung?
OTT: Daran, dass sie nicht bereit sind, den Preis dafür zu zahlen. Dass sie das Ergebnis wollen, ohne sich auch auf den Weg zu machen. „Leichter leben“ ist ein schönes Ziel, noch dazu im Trend, doch die Umsetzung kostet uns etwas. Dafür müssten wir Lebensgewohnheiten ändern, Schwerpunkte korrigieren und uns neu ausrichten. Was wir wirklich wollen, zeigt sich an dem, was wir tun. Alles andere sind leere Worte.
Leichter leben können wir uns nicht „holen“ wie ein Produkt aus dem Supermarkt oder schnell mal online buchen. Es fängt mit einer Inventur an, die anschließend konkrete Schritte ins Neuland braucht.
Da möchte jemand sein Berufsleben, sein Beziehungsleben oder auch einfach seine Freizeit leichter gestalten, kann aber schwerlich alle Baustellen zugleich in Angriff nehmen. Was wäre hier ein umsetzbarer erster Schritt?
OTT: Proaktiv werden und nicht warten, bis es in einem dieser Lebensbereiche zum Crash kommt, der mich zum Umdenken zwingt. Wenn sich die Sehnsucht nach „leichter leben“ bei mir meldet, läuft irgendetwas schief. Herauszufinden, was genau das ist, wäre der erste Schritt. Gute Fragen könnten dazu helfen:
- Welchen Einflussbereich habe ich, um die Dinge in Beruf, Beziehung oder Freizeit so zu gestalten, dass sie für mich besser lebbar werden?
- Wozu könnte die innere Freiheit dienen, die ich gewinnen will?
- Welche Berufung hat Gott in mein Leben gelegt? Wie kann ich ihr treu bleiben, ohne mich permanent zu verausgaben?
- Welche Werte will ich leben und wieviel Anstrengung bin ich bereit, dafür zu investieren?
- Was darf ich loslassen, damit das möglich wird?
Wie wirkt es sich auf einen Menschen aus, wenn er sein Leben dann tatsächlich leichter macht, indem er seinen Alltag, seine Beziehungen, seine Arbeit, und vielleicht auch seinen Glauben „entrümpelt“?
OTT: Er wüsste besser, was ihm das bedeutet, was er tatsächlich behält. Wie nach einem Umzug: Da hat man jedes Stück in der Hand gehabt und entschieden, ob es verzichtbar ist. Was dann noch im Schrank steht, ist wirklich wichtig. Zugespitzt könnte man sagen: Es geht nicht darum, das Leben um jeden Preis zu entrümpeln, sondern das Richtige festzuhalten! Und das gilt nicht nur für Materielles. Den echten, lebendigen Glauben festhalten und starre, leere Formen verabschieden. Schuld loslassen. Und falsche Vorstellungen von anderen Menschen, von mir selbst und von Gott.
Ein gigantisches Werkzeug ist es tatsächlich, Erwartungen loszulassen. Die Erwartungen, was andere tun müssten oder wie sie sein sollten. Wer gegen diese Möglichkeit schon im Vorhinein protestiert, will es definitiv nicht wirklich leichter haben. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich innerlich dagegen aufbegehrt habe, als unser Dozent diese Gedanken einbrachte. Doch mittlerweile weiß ich, dass es stimmt. Es lebt sich wesentlich leichter, wenn ich wahrnehme, was ich vorfinde. Und dann kann ich entscheiden, was es zu tun gilt und wozu mich diese Situation aufruft. Mit dieser Form der Psychohygiene rückt das leichte Leben mit mehr Zufriedenheit ein großes Stück näher.
Und wie vermeidet man, dass diese Übung am Ende zum Egotrip wird, der auf Kosten anderer geht, allem voran des Partners oder der Kinder?
OTT: Jede Übertreibung ist mit Vorsicht zu genießen. Zugegeben, manche Menschen brauchen sie als Zwischenschritt, um sich von falschen Automatismen zu befreien. Doch sie sollten nicht dabei stehen bleiben.
Ich mag das Prinzip, das in der Adlerianischen Psychologie gelehrt wird: Die Bedürfnisse der anderen sind genauso wichtig wie meine eigenen. Und die Maßgabe ist immer, was dem guten Fortkommen aller dient. Auch eine Kontrollfrage bietet sich an: Was wäre, wenn es alle so machen? Könnte das auch ein Recht für andere sein – oder nehme ich es mir nur selbst heraus? Schon Paulus lädt dazu ein: „Ein jeder sehe nicht (nur) auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient“ (Philipper 2,4). Bitte die gute Balance darin nicht aus dem Blick verlieren! Sonst kommen eventuell hinterher Schuldgefühle und die Schleife des schweren Lebens geht in die nächste Runde.
Bitte ergänzen: „Leichter leben“ lohnt sich, weil …
OTT: … ich die Welt nicht retten muss! Sie wird sich eines Tages ohne mich weiterdrehen. Bis dahin darf ich engagiert meinen Beitrag bringen. Und der gelingt mit Leichtigkeit viel besser, als unter permanentem Hochdruck.
Frau Ott, vielen Dank für diese guten Impulse!
Die Fragen stellte Sabine Müller.
Christina Ott, Jg. 1967, ist psychologische Beraterin und Referentin. Sie liebt das Spiel mit Worten und Gedanken und Details der Natur. In ihrem Buch „Unvollkommen glücklich. Vom Mut, ich selbst zu sein“ (Francke-Buch) vertieft sie Impulse rund um ein unvollkommen glückliches und darum auch leichteres Leben.
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