Auf der anderen Seite der Tür
Beitrag im Buch "Bis ans Ende der Welt" - Oktober 2022
Andi Weiss sammelt Geschichten. Wahre Geschichten, die Hoffnung schenken. In seinem Buch "Bis ans Ende der Welt" hat er im Sommer 2022 vierundvierzig neue Geschichten veröffentlicht. Meine ist eine davon.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Andi Weiss
Andi Weiss (Hg.)
Bis ans Ende der Welt
Wahre Geschichten, die Hoffnung schenken
Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe
Im Jahr 2021 wurde ich in eine ungewöhnliche Aufgabe geführt. Rein theoretisch hätte ich ihr vielleicht nie zugestimmt. Doch sie kam als Mischung aus verschiedenen Zutaten mitten im Leben zustande. Dazu gehörten die schlichte Bereitschaft, mich von Gott führen zu lassen, Eigeninitiative und der Schritt aus meiner Komfortzone.
Doch ich will der Reihe nach erzählen. Als Anfang 2021 meine Aufträge als Psychologische Beraterin und Referentin Corona bedingt massiv einbrachen, erinnerte ich mich an ein bestimmtes Gebet. Aus einem Kalender herausgelöst lag es schon jahrelang in Reichweite. Jetzt machte ich es zu meinem Gebet, gekoppelt an die entsprechende Körperbewegung: „Herr, hier sind meine Hände. Lege hinein, was du willst. Nimm hinweg, was du willst. Führe mich, wohin du willst. In allem geschehe dein Wille.“ Indem ich es sprach, geschah etwas. Es breitete sich Frieden aus. Im Loslassen dessen, was ich so gut geplant hatte, wurde Raum für etwas Neues.
Ich meldete mich im Krankenhaus, wo per Hilfeaufruf Schwestern und Pfleger gesucht wurden. Dabei fiel den Verantwortlichen meine Qualifikation im Bereich der Psychologie ins Auge. Innerhalb weniger Tage fand ich mich in der Klinik wieder: In Krankenschwesternkleidung als Beraterin für PatientInnen der Isolierstation und des medizinischen Personals.
Durch meine hingehaltenen Hände und das simple Gebet fühlte ich mich nun tatsächlich von Gott geführt. Was ich an Fähigkeiten mitbringe, wird ausreichen - so beruhigte ich mich selbst angesichts der riesigen Aufgabe, die vor mir lag.
Bald darauf stand ich in Schutzkleidung vor der Isolierstation. Mit Herzklopfen öffnete ich die schwere Glastür und betrat in roten Gummischuhen die fremde Welt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich zurechtfand. Bald war ich mit den Abläufen vertraut. Nein, hinter dieser Tür war nicht das Ende der Welt, auch wenn es sich anfangs so anfühlte.
Ich half den Schwestern bei ihren Tätigkeiten und konnte dadurch gut Kontakt aufbauen. Meine Rolle gab mir außerdem das Privileg, freie Zeit und ein offenes Ohr zu verschenken. Wie oft lief ich in den Monaten der Anstellung langsam über den Flur, hielt betend an Türen inne, las Namen und öffnete dann vorsichtig die Tür. „Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen? Oder möchten Sie lieber allein sein?“ Für die meisten PatientInnen war dies eine willkommene Abwechslung. Es öffnete sich ein Universum an Lebensgeschichten. Abgeschnitten von ihren Lieben, in Ungewissheit über die Zukunft und unfähig, irgendwo hin zu gehen, wollten die meisten Menschen einfach nur reden.
Daraus ergaben sich die vielfältigsten Gespräche, die oft genau den neuralgischen Punkt der Patienten zum Inhalt hatten. Vorsichtig tastend folgte ich dem Erzählstrang der Menschen. Um dann an irgendeinem Punkt ermutigend hineinzuwirken. Mit einer Geste, einem Wort, einer Frage oder Bestätigung. Daraus entstanden kostbare, gelegentlich auch heilige Momente. Ich durfte in FOCUS Online über meine Erfahrungen berichten. Eine Episode daraus möchte ich auch hier teilen.
„Und wieder trete ich in voller Schutzmontur ans Bett einer schwer erkrankten Patientin. Wir kennen uns schon. Heute wirkt die kleine Frau besonders zerbrechlich. Sie liegt schwach in ihren Kissen und schaut mich aufmerksam an. Die Sauerstoffmaske hat ihren Nasenrücken wundgescheuert. Ich greife behutsam ihre Hand. Unser Gespräch bringt uns zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Frau W. freut sich, dass ich es auch kenne. Erst beginne ich die Melodie zu summen. Dann fange ich einfach zu singen an. Frau W. stimmt mit kurzatmigen Textfetzen ein. Ich verlangsame mein Tempo, bis wir ein Gleichmaß gefunden haben. Als ich mich im Text verhasple, sagt Frau W. geduldig: „Das macht nichts“. Mitten in der vorletzten Strophe - der Strophe vom Sterben – weiß ich nicht mehr weiter. Beim Singen für meine Kinder hatte ich sie immer übersprungen. Die letzte Strophe kommt dann wieder flüssig: „…verschon‘ uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“
Lieder erwiesen sich als gute Türöffner. Nur anfangs war es befremdlich, dann fühlte es sich immer natürlicher an. Oft fragte ich Patienten, ob sie ein Lieblingslied aus ihrer Kindheit haben. Und schon waren wir beim Thema. Sie erzählten, wer damals für sie sang und was sie mit dieser Erfahrung verbinden. Ich bot am liebsten das Lied an: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“. Wenn dann meine Hand die Hand des Patienten berührte, konnte ich beim dich der letzten Strophe einen kleinen Druckimpuls aussenden und dazu bestätigend nicken: „Kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.“
In manchen Begegnungen schenkte Gott mir kreative Ideen, um eine Brücke zu schlagen. Zum Beispiel bei dem alten Herrn im gestreiften Satinschlafanzug. Wir kannten uns schon von einigen persönlichen Gesprächen. Ich wusste, dass seine Frau vor Jahren gestorben war. Nun hatte er sichtlich abgebaut und ich reichte ihm das Abendbrot. Er sollte am nächsten Tag in ein Heim verlegt werden. Zum Abschied sagte ich „Gibt es noch irgendetwas, das ich für Sie tun kann? Ich könnte singen, beten, segnen - und streicheln“. Das letzte Wort war mir direkt aus dem Himmel ins Herz und auf die Lippen gefallen. Prompt antwortete der matte Senior: „Ja, streicheln wäre jetzt schön“. Gerührt streichelte ich zart seine rechte Wange. Dabei war ich gar nicht sicher, was durch die blauen Gummihandschuhe hindurch bei ihm ankam. Er hielt die Augen geschlossen. Plötzlich sagte er im innigen Tonfall: „Es ist, als ob mich die Hände meiner Frau streicheln würden“. Behutsam frage ich nach: „Und was würde Ihre Frau zu Ihnen sagen?“ – „Komm zu mir, Manfred. Komm zu mir…“
Nach solchen Episoden brauchte ich anschließend einen Moment der Stille auf dem Flur, um mich wieder zu sammeln. Anschließend ging es zur nächsten Tür, um nach einem „Herr, bitte hilf mir“- Gebet erwartungsvoll anzuklopfen. Was mich hinter der Tür erwartete, glich immer einer Entdeckungsreise. So wie der Abschied von Frau W., die ich eingangs erwähnte.
Als ich Frau W. beim nächsten Dienst wieder aufsuchte, lag sie im Sterben. Leise sang ich ihr noch einmal das Lied vor - „Der Mond ist aufgegangen.“ Ich hatte den Text inzwischen aufgefrischt. Frau W. öffnete die Augen und wendete mir ihr Gesicht zu. Später wollte sie nur noch, dass ich stille bei ihr blieb und ihr die Hand hielt. Zwischendurch sagte sie ein paar Mal: „Du bist ein liebes Mädchen!“ Gerührt antworte ich ihr: „Und Sie sind eine freundliche Frau.“ Ihre Hand hielt mich fest, sobald ich eine kleine Bewegung machte, um mich leise zu entfernen. Ich schmunzelte und blieb noch länger sitzen. Später fragte ich sie: „Darf ich Ihnen noch einmal die Lippen anfeuchten?“ „Gerne.“ Ihre Hand löste sich. Mit einem Stielschwämmchen wischte ich Frau W. vorsichtig über die Lippen. Dann streichelte ich sie zart und verließ mit einem Segensgebet im Herzen leise das Zimmer.
Für begrenzte Augenblicke durfte ich verbunden sein mit Menschen in ihrer Einsamkeit, Sorge, oder Angst. Oder ich sah Lebensmut aufblitzen, Gottvertrauen und Zuversicht. Wie ich Gottes Begleitung dabei erlebt habe? Er hat mich durch die Monate getragen, das Wenige, das ich hatte, wunderbar vermehrt und mich mit Weisheit beschenkt. Gott hat mein Gebet tatsächlich erhört.
Christina Ott, ehemals Krankenschwester, heute Psychologische Beraterin, Referentin und Autorin,
Jahrgang 1967, Nürnberg
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